die zahl derer, die mehrere ehen oder eheähnliche verhältnisse leben, wächst und der zeitgeist sagt uns: eine liebe reicht einfach nicht fürs leben! die lebenslängliche ehe wird als ein gefängnis angesehen, in dem die liebe stirbt, in dem zuneigung hoffnung und trost erstickt werden. flexibilität ist eine ökonomische, wichtige neue tugend, alles ist doch im fluss, und langfristigkeit, dauer und bindung werden als sinnlose, destruktive überich-forderungen angesehen, schnee von gestern!
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du sollst an die liebe glauben. du sollst sie für möglich halten, sie ist -wie alle gnaden- ein geschenk und zugleich eine aufgabe, beides lebenslänglich. ob homo- oder heterosexuell, das interessiert gott nicht so sehr wie seine verwaltungsbeamten.
ich höre aus dieser tradition der liebe zwei grundsätze, die im widerspruch zum zeitgeist stehen. der erste ist am schönsten bei goehte formuliert, es heißt: “freiwillige abhängigkeit, der schönste zustand, und wie wäre er möglich ohne liebe?” der zeitgeist vergötzt die unabhängigkeit des individuums, behauptet uns selber als autark, sich selbst genügend. aber ist das genug zum glück? die wirklichen beziehungen zwischen menschen sind immer ein angewiesensein, ein einander-brauchen, eine co-dependency, die sich selbst freiwillig abhängig macht. wir sind einfach kleiner, dümmer, hässlicher ohne die liebe, und je tiefer unsere beziehung zum anderen ist desto mehr wissen wir wie es im volkslied einmal heißt: “ohne dich kann ich nicht leben, ohne dich kann ich nicht sein” ich kann zwar vielleicht essen oder genießen oder mich amüsieren, aber ich kann nicht “sein”. ich muss nicht meine eigene kraftspenderin oder mein eigener tröster sein, ich muss nicht nur ich selber sein, diese grundannahme des abgelösten individividualismus zerstört, wir wissen es alle, die erde und die anderen lebewesen. […]
das zweite, was die tradition lehren kann, ist, dass die liebe kein privatding ist, sie will mehr als das, sie braucht und will öffentlichkeit, und gerade das ist in dem alten begriff “ehe” mitgedacht. […] die liebe braucht ein haus, in das viele andere hineingehen, sie braucht das zusammen essen und reden, das lachen und weinen, sie braucht kinder, nicht notwendig die eigenen, und vllt gar alte tanten, sie braucht eine einbettung in gemeinsamkeiten. es ist ein zerbrechliches haus, wer könnte das bestreiten, aber zeitweilig spaß zu haben ist keine alternative zum hausbaues! das wirkliche miteinander braucht mehr als das, was zwei menschen sich geben können. es braucht den segen.
dorothee sölle